„Was ist dein Bindungsstil?“ – Zwischen TikTok, Theorie und therapeutischer Realität
Herzlich willkommen zu unserer Kolumne, schön, dass du da bist. Einmal im Monat widme ich mich hier verschiedenen Themen aus der Psychotherapiewelt und dem Praxisalltag. ✨
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„Ich hab gelesen, ich bin ängstlich-vermeidend...“
Ob Instagram-Reel, TikTok-Test oder Podcast-Episode: Der Begriff „Bindungsstil“ ist in der digitalen Welt angekommen. Vor allem jüngere Patient:innen kommen heute häufig mit einer ersten Selbstdiagnose ins Erstgespräch, oft basierend auf populären Tests oder psychoedukativen Accounts. Das kann tatsächlich hilfreich sein, führt aber in vielen Fällen zu Verwirrung, Unsicherheit oder falschen Selbstdiagnosen.
Was sagt die Psychotherapie zu Bindungsstilen? Und wie lassen sie sich eigentlich behandeln?
Die Grundlagen: Bindungstheorie nach Bowlby und Ainsworth
Die moderne Bindungstheorie geht zurück auf den britischen Psychiater John Bowlby, der Bindung als biologisch verankertes System verstand, das der Sicherung des Überlebens dient. Seine zentrale These:
Frühe Bindungserfahrungen prägen, wie Menschen mit Nähe, Trennung und Stress umgehen – auch im Erwachsenenalter.
Mary Ainsworth differenzierte die Theorie weiter und entwickelte das berühmte „Fremde-Situation“-Experiment, bei dem untersucht wurde, wie Kleinkinder auf die Abwesenheit ihrer Mutter reagieren. Daraus leitete sie erstmals systematisch Bindungsstile bei Kleinkindern ab.
Die vier klassischen Bindungsstile im Überblick
- Sicher gebunden
→ Bezugsperson als verlässlich und feinfühlig bzgl. Bedürfnissignalen erlebt
→ im Erwachsenenalter: Vertrauen in Beziehungen, Beziehungserfahrungen können kohärent reflektiert werden - Unsicher-vermeidend
→ Bezugsperson als ablehnend oder distanziert erlebt; Rückzug, wenn das Kind bedürftig wird
→ im Erwachsenenalter: Rückzug in Beziehungen, Schwierigkeiten mit Nähe - Unsicher-ambivalent
→ Bezugsperson inkonsistent, emotional widersprüchliches, nicht kontingentes Verhalten.
→ im Erwachsenenalter: emotionales Auf und Ab, Beziehungserfahrungen werden inkohärent geschildert, Angst vor Zurückweisung - Desorganisiert (ergänzt später durch Main & Solomon)
→ Bezugsperson als Gefahrenquelle von Angst oder Trauma
→ im Erwachsenenalter: chaotisches Beziehungserleben, häufige Dysregulation, Ausprägung klinischer Symptome bei nicht-abgeschlossener Verarbeitung eines Traumas
Wie stabil ist der Bindungsstil?
Bindungsstile sind nicht in Stein gemeißelt, aber sie zeigen sich oft über Jahre stabil – vor allem, wenn keine „korrektiven Erfahrungen“ gemacht werden, d.h. keine gesunden Beziehungserfahrungen erlebt werden. Längsschnittstudien zeigen: Frühkindliche Bindungsmuster sind kein Schicksal, aber häufig ein Startpunkt, der spätere Beziehungserfahrungen rahmt.
Wie kann der Bindungsstil beeinflusst werden?
Bindungserfahrungen lassen sich verändern durch:
- die therapeutische Beziehung: in einer stabilen therapeutischen Allianz werden korrigierende Beziehungserfahrungen gemacht
- Selbstreflexion, Psychoedukation und ACT-basierte Akzeptanzarbeit – im Idealfall mit psychotherapeutischer Unterstützung
- romantische Beziehungen mit sicher gebundenen Partner:innen
- (Elternschaft: das eigene Kind triggert häufig frühere Bindungserfahrungen und eröffnet Veränderungspotenzial)
Was ist für die therapeutische Praxis wichtig:
Bindungsstile sind kein Etikett, sondern ein Verständnismodell: Sie bieten wertvolle Hinweise, sowohl auf das soziale Interaktions- und Belastungserleben von Patient:innen als auch auf Übertragungs- und Beziehungsmuster im therapeutischen Prozess.
Gerade in Zeiten von Social Media bringen vor allem jüngere Patient:innen häufig bereits eigene Vorstellungen über ihr Bindungsverhalten mit – oft aus Tests, Reels oder Podcasts. Dieses Erleben sollte gehört und gesehen werden, damit es im therapeutischen Raum genutzt werden kann. Gleichzeitig gilt es, selbstwertschädigende Selbstzuschreibungen wie „unheilbar bindungsgestört“ behutsam zu entkräften.
Wichtig ist: nicht pathologisieren, sondern neugierig, validierend und ressourcenorientiert bleiben. So wird Bindung nicht zur Festlegung, sondern zur Einladung, sich selbst neu zu erleben.
Quellen und weiterführende Informationen:
Ainsworth, M. D. S., Blehar, M. C., Waters, E., & Wall, S. (1978). Patterns of attachment: A psychological study of the strange situation. Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum Associates.
Bowlby, J. (1969). Attachment and loss: Vol. 1. Attachment. New York, NY: Basic Books.
Bowlby, J. (1973). Attachment and loss: Vol. 2. Separation: Anxiety and anger. New York, NY: Basic Books.
Bowlby, J. (1980). Attachment and loss: Vol. 3. Loss: Sadness and depression. New York, NY: Basic Books.
Main, M., & Solomon, J. (1990). Procedures for identifying infants as disorganized/disoriented during the Ainsworth Strange Situation. In M. T. Greenberg, D. Cicchetti, & E. M. Cummings (Eds.), Attachment in the preschool years: Theory, research, and intervention (pp. 121–160). The University of Chicago Press.
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